A. Masé: Naum Reichesberg (1867–1928).

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Titel
Naum Reichesberg (1867 – 1928). Sozialwissenschaftler im Dienst der Arbeiterklasse


Autor(en)
Masé, Aline
Erschienen
Zürich 2019: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
335 S.
von
Hans Ulrich Jost, Section d'histoire, Universität von Lausanne

Der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Naum Reichesberg lehrte 36 Jahre, von 1892 bis 1928, an der Universität Bern. In seinen Vorlesungen behandelte er, oft in historischer Perspektive, das Kredit-, Bank- und Börsenwesen, die Arbeiterbewegungen, die sozialen Fragen und die sozialistischen Konzepte, sowie die Geschichte und Theorie der Statistik. Später, 1909, kam noch die Nationalökonomie hinzu. Neben der Lehrtätigkeit entwickelte Reichesberg eine beeindruckende wissenschaftliche Tätigkeit. Er bemühte sich zudem, das an der Universität erarbeitete Wissen einem grösseren Publikum zu vermitteln. Hinzu kam eine umfangreiche publizistische Tätigkeit. Reichesberg schuf ein dreibändiges, rund 4000-seitiges «Handwörterbuch der schweizerischen Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung» und betreute während 29 Jahren die «Schweizerischen Blätter für Wirtschafts- und Socialpolitik». Diese Hinweise allein zeigen, dass Reichesberg zu den wichtigsten Protagonisten der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Schweiz der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählt.

Naum Reichesberg entstammt einer im damals russischen Kremenez (heute Ukraine) ansässigen bürgerlich-jüdischen Familie. Er besuchte das Gymnasium in Kiew und begann 1887 in Wien, u. a. bei Lujo Brentano, Wirtschaftswissenschaften zu studieren. 1890 immatrikulierte er sich an der juristischen Fakultät in Bern, wo er im Juni 1891 mit einer Dissertation über «Friedrich Albert Lange als Sozialökonom» abschloss. Er benutzte darauf einen zehnmonatigen Aufenthalt in Berlin, um bei Richard Böckh seine Kenntnisse der Statistik zu vertiefen. Danach, 1892, habilitierte er sich in Bern mit einer Studie über «Die Statistik und ihr Verhältnis zur Gesellschaftswissenschaft».

1892 begann Reichesberg als Privatdozent seine Vorlesungen an der juristischen Fakultät der Universität Bern. 1898 wurde er zum ausserordentlichen Professor befördert – jedoch ohne Besoldung. Da seine Vorlesungen recht gut besucht waren, verfügte er dank der Kollegiengelder über ein kleines Einkommen. 1903 gewährte ihm die Erziehungsdirektion schliesslich 2000 Franken pro Jahr, ein Lohn der kleiner war als der eines Volksschullehrers. Erst mit der Ernennung zum Ordinarius, 1907, wurde ihm ein ordentliches Jahresgehalt von 4500 Franken zugestanden. Reichesbergs finanzielle Situation blieb jedoch zeitlebens prekär.

Reichesberg wurde von der Ochrana, der russischen Geheimpolizei überwacht und die zaristische Gesandtschaft wandte sich mit Verdächtigungen an den Bundesrat. Die Berner Polizei konnte zwar keine revolutionäre Aktivität feststellen, doch scheute sie sich nicht, Reichesberg in ihren Rapporten mit xenophoben und antisemitischen Bemerkungen zu disqualifizieren. Seine Denkungsart sei, so 1922 im Rapport der Polizei, «zu russisch und zu jüdisch». So verlief denn auch das damals gestellte Einbürgerungsbegehren im Sande.

Die privaten und persönlichen Aspekte der Biographie konnten mangels eines Nachlasses oder ähnlicher Quellen nur spärlich eingebracht werden. Die Autorin versuchte diese Lücke mit ausführlichen Beschreibungen der generellen Umfelder der verschiedenen Lebensbereiche zu schliessen. So erfahren wir beispielsweise viel über die Lage der Juden in Russland, über die schweizerische Migrationsproblematik, über die Einwohnerkontrolle oder über das Eherecht. Es handelt sich um Zusammenfassungen historischer Studien, bei denen man gelegentlich die Person Reichesberg aus dem Auge verliert.

Der Hauptteil der vorliegenden Arbeit (Kapitel 4–7) betrifft die akademische und öffentliche Tätigkeit Reichesbergs. Das Kapitel über die Lehrtätigkeit beginnt mit einer langen Einleitung über die Studentenschaft und die Präsenz der ausländischen, insbesondere russischen Studenten und Studentinnen in Bern. Neben den Anstellungsbedingungen und Hinweisen zur Thematik der Vorlesungen erhält man auch wichtige Einblicke in die von Reichesberg und einigen Kollegen organisierten Vortragstätigkeit ausserhalb der Alma Mater. Er unterrichtete zudem an der vom Sekretär der Arbeiterunion Wassilieff geleiteten Freien Schule in Bern.

Im fünften, den Publikationen gewidmeten Kapitel geht es insbesondere um die zehnjährige Arbeit für die Herausgabe des Handwörterbuchs. Über die Mitarbeiter, eine repräsentative Gruppe von Persönlichkeiten der akademischen und politischen Kreise der Schweiz, findet man leider nur wenige Angaben. Die Autorin leuchtet jedoch die Probleme der Organisation und Finanzierung dieses Werkes gut aus. Ausführlich kommt dabei die kleinliche Behandlung des um Unterstützung angefragten Bundesrates zur Sprache.

Eine weiteres für Reichesberg wichtiges Engagement erfolgte im Rahmen der 1900 in Paris gegründeten Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz (IVgA). Der Generalsekretär der IVgA, Stephan Bauer, war zugleich Direktor des 1901 in Basel angesiedelten Internationalen Arbeitsamtes. Reichesberg war Mitglied des Vorstandes der schweizerischen Sektion der IVgA, die von Alt-Bundesrat Emil Frey präsidiert wurde. Dank der regelmässig besuchten Versammlungen der IVdA kam Reichesberg in Kontakt mit zahlreichen ausländischen Persönlichkeiten. Ausgehend von den Bemühungen um den Schutz der Arbeiter setzte sich Reichesberg für die Schaffung eines eidgenössischen sozialstatistischen Amtes ein. Ein solches kam zwar nicht zustande, aber mit der 1925 vom Eidgenössischen Arbeitsamt konstituierten Sozialstatistischen Kommission kümmerte sich der Bund doch, wenn auch nicht sehr eingehend, um dieses lange vernachlässigte Problem.
Trotz der materialreichen Darstellung sind nicht alle Quellen optimal ausgewertet.
Man hätte beispielsweise die Liste der 254 Mitarbeiter des Handwörterbuches eingehend kommentieren und gemäss Themenschwerpunkten aufschlüsseln können. Dies hätte einen besseren Einblick in das gesellschaftliche und wissenschaftliche Umfeld Reichesbergs gegeben.

Doch insgesamt kommt die bisher nur wenig beachtete Rolle Reichesbergs bei der Entwicklung der Sozialwissenschaften in der Schweiz deutlich zutage. Obwohl ein persönlicher Nachlass fehlt, gibt die Arbeit von Aline Masé einen facettenreichen Zugang zur Persönlichkeit Reichesbergs.

Zitierweise:
Jost, Hans Ulrich: Rezension zu: Masé, Aline: Naum Reichesberg (1867–1928). Sozialwissenschaftler im Dienst der Arbeiterklasse, Zürich 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 70 (2), 2020, S. 318-320. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00063>.

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